Verfassungsrechtliche und demokratiepolitische Chancen und Grenzen einer Demokratiereform unter Schwarz-Blau II
Die schwarz-blaue Bundesregierung hat sich in ihrem Regierungsprogramm darauf verpflichtet, die Demokratie zu stärken. Ermöglicht werden soll dies durch einen schrittweisen Ausbau und eine Verknüpfung der beiden direktdemokratischen Mechanismen Volksbegehren und Volksabstimmung. Dieses Vorhaben ist demokratiepolitisch von grundsätzlicher Bedeutung, hält man sich vor Augen, dass es mittlerweile schon über 10 Jahre her ist, dass Colin Crouch den Begriff der „Postdemokratie“ einführte, um darauf hinzuweisen, dass eine weit verbreitete Politikverdrossenheit bis hin zu einer Ablehnung etablierter politischer Parteien und des Parlamentarismus überhaupt grassiere.1Crouch, Post Democracy (2004). In Österreich wurde 2014 auf die Verbreitung antipolitischer Ressentiments mit der parlamentarischen Enquete-Kommission zur Stärkung der Demokratie reagiert, die 2015 konkrete Empfehlungen abgegeben hat.2Abschlussbericht der Enquete-Kommission betreffend Stärkung der Demokratie in Österreich 791 BglNR 25. GP. In diesen Empfehlungen findet sich eine Aufwertung des Volksbegehrens durch eine ernsthaftere Behandlung im Parlament, jedoch keine daran gekoppelte automatische Volksbefragung, was die damalige Opposition scharf kritisierte3 Parlament, Demokratiereform: Enquete-Kommission legt Abschlussbericht vor, Parlamentskorrespondenz vom 16.9.2015, https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2015/PK0952/index.shtml (abgefragt am 27.12.2018). und die Bundesregierung nun umsetzen will.
Dem Regierungsprogramm lässt sich entnehmen, dass ein zweistufiger Reformprozess vorgesehen ist.4ÖVP/FPÖ, Zusammen. Für unser Österreich. Regierungsprogramm 2017–2022, 19f. Zunächst soll das Volksbegehren aufgewertet werden. Obwohl das Verfahren und Instrument des Volksbegehrens5Die folgenden Ausführungen zu den rechtlichen Grundlagen des Volksbegehrenverfahrens orientieren sich an Titz/Berger, Frauen*volksbegehren 2.0: Es ist Zeit! juridikum 2017/3, 301. bereits in der Bundesverfassung 19206Kelsen/Froehlich/Merkl, Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 (2003) 65. angelegt war, schufen erst der Erlass des Ausführungsgesetzes im Jahr 1963 und eine detaillierte verfahrensgesetzliche Regelung im Jahr 1973 die Möglichkeit für eine tatsächliche Durchführung.7BGBl 1963/197; BGBl 1967/344; Volksbegehrengesetz 1973 BGBl 1973/344 idF BGBl I 2018/32. Auf der Grundlage von Art 41 Abs 2 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) können Bürger*innen nach geltender Rechtslage eine Gesetzesinitiative auf die parlamentarische Agenda setzen: Nach Unterstützung durch ein Promille (zurzeit 8.401) der Stimmberechtigten kann ein Volksbegehren initiiert werden, das bei Unterzeichnung durch 100.000 Stimmberechtigte oder einem Sechstel der Stimmberechtigten dreier Bundesländer als formal erfolgreich eingebracht gilt und dem Parlament zur Behandlung vorgelegt wird.8Vgl §§ 21, 24, 42, 69 Bundesgesetz über die Geschäftsordnung des Nationalrates BGBl 1975/410 idF BGBl I 2016/41. Aufgrund des repräsentativen Charakters des in der österreichischen Verfassung vorgesehenen Demokratiemodells liegt die Entscheidungshoheit, wie auf ein formal erfolgreiches Volksbegehren reagiert wird, bei den Nationalratsabgeordneten. So wird gesetzlich nicht vorgegeben, wie die gesetzgebende Körperschaft ein Volksbegehren zu behandeln hat (Anhörung der Initiator*innen im Plenum, Behandlung im Ausschuss etc), noch besteht irgendeine Pflicht, einen auf ein Volksbegehren bezogenen (Gesetzes-)Beschluss zu fassen.9Berka, Verfassungsrecht7 (2018) Rz 637. Hierin liegt freilich eine der Schwächen des Volksbegehrens.10Schäffer, Über die „Schwäche“ der Volksbegehren in Österreich, in FS Öhlinger (2004) 412 (414ff, 429ff).
Der Plan der Bundesregierung sieht deswegen in einem ersten Schritt vor, Verfahrensgarantien einzuführen, die sicherstellen sollen, dass ein formal erfolgreiches Volksbegehren auch ernsthaft behandelt wird. Dazu gehören eigene Ausschüsse und Plenarsitzungen, ein Rederecht für die Initiator*innen im Plenum und eine Stellungnahmepflicht des*der zuständige*n Fachministers*in sowie eine Gesetzesbegutachtungsphase.11ÖVP/FPÖ, Zusammen. Für unser Österreich. Regierungsprogramm 2017–2022, 19f. Mit der Einführung dieser Verfahrensgarantien ist im Jahr 2019 zu rechnen,12Dem Regierungsprogramm ist zu entnehmen, dass das neue Modell drei Jahre nach der Einführung und gegen Ende der Gesetzgebungsperiode im Jahr 2022 evaluiert werden soll; vgl ÖVP/FPÖ, Zusammen. Für unser Österreich. Regierungsprogramm 2017–2022, 20. weswegen diese bei den aktuellen, erfolgreich eingebrachten Volksbegehren Frauen*Volksbegehren, Don’t Smoke und ORF ohne Zwangsgebühren noch keine Anwendung finden. Im Jahr 202213
Eine frühere Durchführung von Volksabstimmungen wurde von Regierungsvertreter*innen mit dem Verweis auf „Koalitions- und Pakttreue“ ausgeschlossen; Red, FPÖ zu „Don’t smoke“: „Auch eine Million hätte nichts geändert“, Kurier 9.10.2018, www.kurier.at/politik/inland/fpoe-zu-dont-smoke-auch-eine-million-haette-nichts-geaendert/400140242 (abgefragt am 11.12.2018). sollen „die gewonnenen praktischen Erfahrungen” schließlich „evaluiert werden” und in einem zweiten Schritt ein „Modell zur weiteren Stärkung der Demokratie beschlossen werden”.14ÖVP/FPÖ, Zusammen. Für unser Österreich. Regierungsprogramm 2017–2022, 20. Im zweiten Schritt ist geplant, an ein Volksbegehren mit mehr als 900.000 Unterschriften, das vom Nationalrat binnen eines Jahres nicht entsprechend umgesetzt und vom VfGH vorab auf Verfassungsmäßigkeit geprüft wurde, eine verpflichtende (und im Ergebnis rechtlich verbindliche) Volksabstimmung zu koppeln. Man spricht bei diesem Modell auch von einer dreistufigen Volksgesetzgebung (Volksinitiative – Volksbegehren – Volksentscheid bzw -abstimmung).15Demokratiezentrum Wien, Debatte: Demokratiereform in Österreich, www.demokratiezentrum.org/themen/direkte-demokratie/debatte-demokratiereform.html (Stand 11.12.2018).
Eine Reform des Instruments ist demokratiepolitisch notwendig, denn wie Ex-Bundeskanzler Alfred Gusenbauer meinte, bekämen Volksbegehren in Österreich in der Regel ein „Begräbnis erster Klasse“.16Red, Ein Begräbnis erster Klasse, Standard 30.3.2004, www.derstandard.at/1617699/Ein-Begraebnis-erster-Klasse (abgefragt am 10.12.2018). Gleichzeitig ist dabei umsichtig vorzugehen, verfassungsrechtlich wie auch demokratiepolitisch. Die geplante Verschränkung von Volksbegehren und Volksabstimmung, die dazu führen würde, dass vom Parlament nicht umgesetzte Gesetzesinitiativen vollzogen werden müssen, ist mit dem tragenden, demokratischen Grundprinzip (Art 1 B-VG) nicht ohne weiteres vereinbar. Zentral für die österreichische Landes- und Bundesgesetzgebung ist nämlich ihr repräsentativ-demokratischer Charakter, der aus der Systematik des B-VG abgeleitet wird (vgl Art 26 und 74 B-VG).17Berka, Verfassungsrecht Rz 123ff, 133ff. Dies bedeutet, dass die österreichischen Bürger*innen Vertreter*innen wählen, die für sie im Rahmen des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens politisch tätig werden.
Durch die Möglichkeit einer regulären plebiszitären Gesetzeserzeugung unter Ausschluss oder gegen den (Mehrheits-)Willen des Parlaments würde der repräsentative Charakter der österreichischen Demokratie so eingeschränkt werden, dass die Grenze zur Gesamtänderung der österreichischen Bundesverfassung jedenfalls erreicht wäre.18 Oberndorfer in Korinek/Holoubek (Hrsg), Österreichisches Bundesverfassungsrecht I/1 (3. EL 2000) Rz 14f. Daher müsste vor einem solchen Umbau der Gesetzgebung eine obligatorische Volksabstimmung vorgenommen werden.19Berka, Verfassungsrecht Rz 111ff.; VfGH 28.06.2001, G 103/00. Ohne vorangehende Volksabstimmung würde die unmittelbare Volksgesetzgebung entweder auf verfassungswidrigem Verfassungsrecht beruhen oder zumindest verfassungswidrige Verfassungsrealität darstellen, was früher oder später in eine Legitimitätskrise führen könnte. Ein Problem direktdemokratischer Gesetzgebungsverfahren besteht darin, dass Parlamente – in einem von Massenmedien und Ressentiments beherrschten gesellschaftlichen Klima – von rechtspopulistischen und antidemokratischen Kräften zu direktdemokratischen Marktplätzen umfunktioniert werden könnten.20Ehs/Willroider, Parlamente unter Druck. Die Rückkehr des direktdemokratischen Marktplatzes, juridikum 2013/1, 119. Dies wäre der Fall, wenn mittels Ja-Nein-Abstimmungen Minderheitenrechte eingeschränkt werden oder direkt oder indirekt versucht wird, den Ausstieg aus der EU herbeizuführen,21Krastev, Europadämmerung (2017) 110ff. um dem vermeintlichen nationalen Mehrheitswillen Ausdruck zu verleihen.22Becker, Zwei Flügel der nationalistischen Rechten, Kurswechsel 2018/3, 29. Zudem ist die Teilnahme der Stimmberechtigten an direktdemokratischen Verfahren keineswegs immer so groß, dass diese tatsächlich den Mehrheitswillen der Bevölkerung abbilden; so liegt die Beteiligung an eidgenössischen Volksabstimmungen in der Schweiz durchschnittlich etwa bei unter 50 Prozent.23Schweizerische Eidgenossenschaft, Stimmbeteiligung www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/politik/abstimmungen/stimmbeteiligung.html (abgefragt am 18.12.2018). Verfassungsrechtlich und demokratiepolitisch legitim können direktdemokratische Mechanismen, die Gesetzgebungsakte auslösen, nur dann sein, wenn sie von einer Mehrheit der Stimmberechtigten per Volksabstimmung in die verfassungsmäßige Ordnung eingepasst werden. Zum anderen sollte die Beteiligung im politischen Diskurs weder unter- noch überbewertet werden. Nicht zuletzt müssen sich diese Gesetzgebungsakte inhaltlich wiederum an der Grundrechtsordnung und deren Grenzziehung des mehrheitlich Regelbaren messen lassen.
Die von der Bundesregierung angedachten Verfahrensgarantien würden vor allem die rechtliche Position von Vertreter*innen der Zivilgesellschaft im parlamentarischen Prozess stärken, was den demokratischen Diskurs in Österreich bereichern und lebendiger machen würde. Ein Automatismus, der bewirken würde, dass jedes Volksbegehren zu einer Gesetzesinitiative (und letztlich zu einem Gesetz) werden könnte, ist jedoch ohne eine Gesamtänderung der Bundesverfassung und einem entsprechenden Grundrechtsschutz problematisch. Volksbegehren sind insofern durchaus modernisierungsbedürftige, aber geeignete Vehikel, um Menschen für Anliegen, die vonseiten der Regierung vernachlässigt werden (wie gegenwärtig Gesundheits- und Arbeitsschutz oder Frauen- und Minderheitenrechte), zu sensibilisieren und zu (re-)politisieren. Bürger*innenbeteiligung, fakultative oder obligatorische Referenda und neue Modelle der politischen Partizipation dürfen nicht den Rechten überlassen werden.
Christian Berger
Quellen
1. | ↑ | Crouch, Post Democracy (2004). |
2. | ↑ | Abschlussbericht der Enquete-Kommission betreffend Stärkung der Demokratie in Österreich 791 BglNR 25. GP. |
3. | ↑ | Parlament, Demokratiereform: Enquete-Kommission legt Abschlussbericht vor, Parlamentskorrespondenz vom 16.9.2015, https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2015/PK0952/index.shtml (abgefragt am 27.12.2018). |
4, 11. | ↑ | ÖVP/FPÖ, Zusammen. Für unser Österreich. Regierungsprogramm 2017–2022, 19f. |
5. | ↑ | Die folgenden Ausführungen zu den rechtlichen Grundlagen des Volksbegehrenverfahrens orientieren sich an Titz/Berger, Frauen*volksbegehren 2.0: Es ist Zeit! juridikum 2017/3, 301. |
6. | ↑ | Kelsen/Froehlich/Merkl, Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 (2003) 65. |
7. | ↑ | BGBl 1963/197; BGBl 1967/344; Volksbegehrengesetz 1973 BGBl 1973/344 idF BGBl I 2018/32. |
8. | ↑ | Vgl §§ 21, 24, 42, 69 Bundesgesetz über die Geschäftsordnung des Nationalrates BGBl 1975/410 idF BGBl I 2016/41. |
9. | ↑ | Berka, Verfassungsrecht7 (2018) Rz 637. |
10. | ↑ | Schäffer, Über die „Schwäche“ der Volksbegehren in Österreich, in FS Öhlinger (2004) 412 (414ff, 429ff). |
12. | ↑ | Dem Regierungsprogramm ist zu entnehmen, dass das neue Modell drei Jahre nach der Einführung und gegen Ende der Gesetzgebungsperiode im Jahr 2022 evaluiert werden soll; vgl ÖVP/FPÖ, Zusammen. Für unser Österreich. Regierungsprogramm 2017–2022, 20. |
13. | ↑ | Eine frühere Durchführung von Volksabstimmungen wurde von Regierungsvertreter*innen mit dem Verweis auf „Koalitions- und Pakttreue“ ausgeschlossen; Red, FPÖ zu „Don’t smoke“: „Auch eine Million hätte nichts geändert“, Kurier 9.10.2018, www.kurier.at/politik/inland/fpoe-zu-dont-smoke-auch-eine-million-haette-nichts-geaendert/400140242 (abgefragt am 11.12.2018). |
14. | ↑ | ÖVP/FPÖ, Zusammen. Für unser Österreich. Regierungsprogramm 2017–2022, 20. |
15. | ↑ | Demokratiezentrum Wien, Debatte: Demokratiereform in Österreich, www.demokratiezentrum.org/themen/direkte-demokratie/debatte-demokratiereform.html (Stand 11.12.2018). |
16. | ↑ | Red, Ein Begräbnis erster Klasse, Standard 30.3.2004, www.derstandard.at/1617699/Ein-Begraebnis-erster-Klasse (abgefragt am 10.12.2018). |
17. | ↑ | Berka, Verfassungsrecht Rz 123ff, 133ff. |
18. | ↑ | Oberndorfer in Korinek/Holoubek (Hrsg), Österreichisches Bundesverfassungsrecht I/1 (3. EL 2000) Rz 14f. |
19. | ↑ | Berka, Verfassungsrecht Rz 111ff.; VfGH 28.06.2001, G 103/00. |
20. | ↑ | Ehs/Willroider, Parlamente unter Druck. Die Rückkehr des direktdemokratischen Marktplatzes, juridikum 2013/1, 119. |
21. | ↑ | Krastev, Europadämmerung (2017) 110ff. |
22. | ↑ | Becker, Zwei Flügel der nationalistischen Rechten, Kurswechsel 2018/3, 29. |
23. | ↑ | Schweizerische Eidgenossenschaft, Stimmbeteiligung www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/politik/abstimmungen/stimmbeteiligung.html (abgefragt am 18.12.2018). |