Die Bundesregierung und der Parlamentarismus

„Allein ich glaub’, du hält’st nicht viel davon…“ – Faust I, Vers 3417.


Der zweite Tagesordnungspunkt der Nationalratssitzung vom 22. November 2018 behandelt das Pensionsanpassungsgesetz 2019. Die Debatte wird eröffnet, es folgen zwei Wortmeldungen zum Inhalt des Gesetzes. So weit, so unspektakulär. Doch dann meldet sich als dritter Redner der SPÖ-Abgeordnete Jörg Leichtfried mit einer hoch emotionalen Rede zur Geschäftsbehandlung zu Wort. Die Bundesregierung gehe mit Gesetzgebungs-Usancen um, als hätte es diese nie gegeben.1Parlament, Sten Prot, Nationalrat, 51/NRSITZ, XXVI. GP, 22. November 2018, 10.43. Ein zweiter Abgeordneter, Nikolaus Scherak, pflichtet ihm bei und ruft die Abgeordneten der Regierungsparteien zur Einhaltung informeller Gepflogenheiten auf, denn „wenn etwas andauernd passiert, […] dann ist es nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel.“2Parlament, Sten Prot, Nationalrat, 51/NRSITZ, XXVI. GP, 22. November 2018, 10.44. Die beiden Oppositionsabgeordneten sind nicht alleine: Auch der Österreichische Rechtsanwaltskammertag kritisierte in seinem Tätigkeitsbericht 2018 die Gesetzgebungsarbeit der aktuellen Bundesregierung und bemängelte „legislative Qualitätsdefizite“.3Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Tätigkeitsbericht 2018, (2018), 11. In den Medien ist von „Hinterzimmer-Gesetzgebung“4Koller, Gesetzgebung im Hinterzimmer, Salzburger Nachrichten 13.12.2018, https://www.sn.at/politik/innenpolitik/gesetzgebung-im-hinterzimmer-62420812 (abgefragt am 30.12.2018).  die Rede.

Um die Begründetheit dieser Kritik nachvollziehen zu können, gilt es, einen Blick auf die Normen zu werfen, die die Gesetzgebung regeln. Die meisten in Österreich beschlossenen Gesetze nehmen als Regierungsvorlage ihren Anfang.5Parlament, Gesetzesinitiativen, https://www.parlament.gv.at/PERK/GES/WEG/INITIATIVE/index.shtml (abgefragt am 29.12.2018). In vielen Fällen geht einer solchen Initiative ein Ministerialentwurf und eine Begutachtung desselben voraus. Im Rahmen des Begutachtungsverfahrens erhalten Privatpersonen sowie Interessenvertretungen und Institutionen (von anderen Ministerien, Sozialpartnern, Universitäten bis hin zur Österreichischen Hochschüler*innenschaft) die Möglichkeit, Stellungnahmen zum Entwurf abzugeben.6Parlament, Begutachtungsverfahren und Stellungnahmen, https://www.parlament.gv.at/PAKT/MESN/ (abgefragt am 30.12.2018). Ausreichend Begutachtungszeit ist notwendig, um es Interessenvertreter*innen zu ermöglichen, fundierte Änderungsvorschläge und Kritik zu formulieren. Die Rechtsgrundlagen für die Begutachtung sind stark aufgesplittet; so ist zum Beispiel im Arbeiterkammergesetz (§ 93 Abs 2 AKG)7Vgl § 93 Abs 2 Arbeiterkammergesetz. oder dem Wirtschaftskammergesetz (§ 10 Abs 1 WKG)8Vgl § 10 Abs 1 Wirtschaftskammergesetz. die „Einhaltung einer angemessenen Frist zur Begutachtung“ vorgesehen. Ein Rundschreiben des Verfassungsdienstes im Bundesministerium für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz9Verfassungsdienst, Rundschreiben des Verfassungsdienstes betreffend Festsetzung angemessener Begutachtungsfristen, GZ BKA-600.614/0002-V/2/2008. und eine Verordnung des Bundeskanzlers10Vgl § 9 Abs 3 WFA-Grundsatzverordnung. aus dem Jahr 2012 empfehlen hierfür eine Frist von sechs Wochen. Weder das Rundschreiben noch die Verordnung enthalten zwingende Vorgaben, was sich in der politischen Praxis zeigt: Während der aktuellen Legislaturperiode wurde nur in 16 Prozent der Begutachtungsverfahren eine Frist von sechs Wochen eingehalten.11Ennser-Jedenastik, Zu kurze Begutachtungsfristen bei Türkis-Blau – wie schon bei Rot-Schwarz, Der Standard 7.11.2018, https://derstandard.at/2000090732541/Tuerkis-Blau-setzt-zu-kurze-Begutachtungsfristen-wie-schon-Rot-Schwarz?_blogGroup=1 (abgefragt am 30.12.2018). Kürzlich erhielt ein Gesetz eine Begutachtungsfrist, die nur vier Werktage dauerte.12Red., Harsche Kritik an Mini-Begutachtungsfrist für ÖBIB-Reform, Der Standard 4.11.2018, https://derstandard.at/2000090622116/Harsche-Kritik-an-Mini-Begutachtungsfrist-fuer-OeBIB-Reform (abgefragt am 30.12.2018).

Dennoch sind verkürzte Begutachtungsfristen noch kein entscheidender Bruch mit einer politischen Usance. Auch in den vergangenen Legislaturperioden wurde nur in 18 Prozent der Begutachtungen die empfohlene Frist gewahrt.13Ennser-Jedenastik, Zu kurze Begutachtungsfristen bei Türkis-Blau – wie schon bei Rot-Schwarz, Der Standard 7.11.2018, https://derstandard.at/2000090732541/Tuerkis-Blau-setzt-zu-kurze-Begutachtungsfristen-wie-schon-Rot-Schwarz?_blogGroup=1 (abgefragt am 30.12.2018). Eher zeigt sich das Abgehen von langjähriger Gesetzgebungsgewohnheit in der Ausreizung des Rahmens, den das Geschäftsordnungsgesetz des Nationalrates (GOG-NR)14Geschäftsordnungsgesetz 1975 BGBl 1975/410 idF BGBl I 2016/41. normiert. Die Geschäftsordnung regelt die organisatorischen Abläufe des Nationalrates und sieht beispielsweise vor, dass mindestens fünf seiner Mitglieder15Vgl § 26 Abs 4 GOG-NR. Gesetzesanträge einbringen können. Durch Initiativanträge (oder selbständige Anträge) kann, ohne groß Aufmerksamkeit zu erregen, die übliche Begutachtung als Ministerialentwurf umgangen werden. Die Regierungsparteien ziehen es daher regelmäßig vor, anstatt eine Regierungsvorlage einzubringen, über ihre Nationalratsabgeordneten einen Initiativantrag zu stellen.16Berka, Verfassungsrecht7 (2018) 197. Dass dieses Vorgehen bei so bedeutsamen Gesetzen wie der Arbeitszeitgesetznovelle1767/BNR BlgNR 26. GP. gewählt wird, steht jedoch im Gegensatz zu dem in Österreich noch immer stabil ausgeprägten Korporatismus, der eine Einbindung möglichst aller gesellschaftlicher Interessen in die politische Willensbildung ermöglicht.18Tálos, Auswirkungen der EU-Mitgliedschaft auf die Sozialpartnerschaft, in: Pfefferle/Schmidt/Valchars (Hrsg), Europa als Prozess. 15 Jahre Europäische Union und Österreich (2010) 68. Durch das Einbringen der Arbeitszeitgesetznovelle als Initiativantrag wurde die Anhebung der gesetzlichen Höchstarbeitszeiten beschlossen, ohne dass sich die Sozialpartner formal dazu äußern konnten. Dadurch wurde der öffentliche Diskurs weitgehend unterbunden und eine kritische Prüfung entfiel.

Weiters sieht die Geschäftsordnung des Nationalrates vor, dass Abgeordnete Abänderungsanträge, also einen Antrag auf Änderung eines Gesetzesentwurfs, stellen können.19Vgl § 41 Abs 8 GOG-NR (Abänderungsanträge in Ausschusssitzungen), § 53 Abs 3 GOG-NR (Abänderungsanträge in Sitzungen des Nationalrates). Auch Abänderungsanträge können dazu verwendet werden, den Diskurs zu unterbinden: Abgeordnete der Regierungsfraktionen bringen einen inhaltlich unbedenklichen Antrag ein, dieser wird im zuständigen Ausschuss behandelt und erst kurz vor der Abstimmung wird durch eine Abänderung des unbedenklichen Antrags politisch Umstrittenes beschlossen. Bisher waren Abänderungsanträge 24 Stunden im Voraus eingebracht worden. Anlass der eingangs erwähnten Kritik von Leichtfried und Scherak war, dass im Fall des Pensionsanpassungsgesetz 2019 der Abänderungsantrag von Mandatar*innen der Regierungsfraktionen nur zirka 25 Minuten vor der Nationalratssitzung eingebracht worden war. Der Abänderungsantrag sah unter anderem die Einführung des § 717b in das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) vor, mit dem „Vorbereitungshandlungen, die im Hinblick auf erst in der Zukunft liegende Gesetzesänderungen im Bereich der Sozialversicherungsgesetze erforderlich sind, […] bereits vor dem In-Kraft-Treten des jeweiligen Bundesgesetzes durchgeführt werden“20102/BNR BlgNR 26. GP 2. können.

Auch im Zuge der Bundesministeriengesetz-Novelle 2017, die die Ressortverteilung der Bundesregierung regelt,213/BNR BlgNR 26. GP. wurde erst unmittelbar vor der Sitzung des zuständigen Ausschusses ein Abänderungsantrag eingebracht, der die heute geltende Ressortverteilung enthielt.22Parlamentskorrespondenz, Verfassungsausschuss gibt grünes Licht für neue Ressortverteilung in der Regierung, https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2017/PK1199/index.shtml (abgefragt am 30.12.2018).

Nach einem ähnlichen Muster wurde Anfang Juli 2018 eine Ausgaben- beziehungsweise Kostenbremse für die Sozialversicherungsträger in das Erwachsenenschutzgesetz inkludiert. Konkret werden die Sozialversicherungsträger dazu angehalten, größere Bauvorhaben und Umzugspläne zu stoppen und offene (Ärzt*innen-)Stellen nur befristet bis Ende 2019 zu besetzen. Inhaltlich haben diese Maßnahmen nichts mit der im Erwachsenenschutzgesetz geregelten klinischen Entscheidungsfindung mit Patient*innen und Stellvertreter*innen zu tun: Polarisierende Sparvorgaben an die Sozialversicherungen wurden in den geltenden Rechtsbestand geschleust.2374/BNR BlgNR 26. GP 7.

Es entsteht das in Österreich nicht ganz unbekannte Bild einer Regierung, welcher der Nationalrat schlichtweg lästig ist. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass der Bundeskanzler und weitere Regierungsmitglieder wiederholt wichtigen Sitzungen des Nationalrates fernbleiben.24Horaczek/Redl, Tiefe Hütte, Hohes Haus, Falter 2018/28, 12. Die mangelhafte Beantwortung parlamentarischer Anfragen, die schon in früheren Legislaturperioden des Öfteren kritisiert und nun auch von Nationalratspräsident Sobotka gerügt wurde, zeigt, dass die Regierung neben der Gesetzgebungsfunktion auch die Kontrollfunktion des Nationalrates nicht sonderlich ernst nimmt.25WZ-Online/APA, Sobotka tadelt Kurz – wegen mangelhafter Anfragebeantwortung, Wiener Zeitung 24.4.2018, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/960806_Sobotka-tadelt-Kurz-wegen-mangelhafter-Anfragebeantwortung.html (abgefragt am 30.12.2018). Dass es diese Tendenzen auch innerhalb der Bevölkerung gibt, beschreibt ein Aufsatz des Historikers Oliver Rathkolb zu „autoritärem Potenzial und demokratischen Werten in Österreich“. In den letzten zehn Jahren gäbe es laut Rathkolb eine steigende Befürwortung der Idee einer starken Führungspersönlichkeit, die sich weder um Wahlen, noch um parlamentarische Prozesse kümmern müsse: Lehnten dieses Konzept im Jahr 2007 noch 61 Prozent der Befragten völlig ab, waren es im Jahr 2018 nur mehr 45 Prozent.26Rathkolb, Autoritäres Potenzial und demokratische Werte in Österreich 1978 – 2004 – 2017, juridikum 2018/1, 80 (80). Daraus ergibt sich, dass eine Stärkung der parlamentarischen Demokratie nicht isoliert auf institutioneller Ebene erfolgen kann, sondern eine Aufgabe von grundlegender gesellschaftspolitischer Bedeutung ist.

Maximilian Blassnig, Antonia Reiss

Quellen   [ + ]

1. Parlament, Sten Prot, Nationalrat, 51/NRSITZ, XXVI. GP, 22. November 2018, 10.43.
2. Parlament, Sten Prot, Nationalrat, 51/NRSITZ, XXVI. GP, 22. November 2018, 10.44.
3. Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Tätigkeitsbericht 2018, (2018), 11.
4. Koller, Gesetzgebung im Hinterzimmer, Salzburger Nachrichten 13.12.2018, https://www.sn.at/politik/innenpolitik/gesetzgebung-im-hinterzimmer-62420812 (abgefragt am 30.12.2018).
5. Parlament, Gesetzesinitiativen, https://www.parlament.gv.at/PERK/GES/WEG/INITIATIVE/index.shtml (abgefragt am 29.12.2018).
6. Parlament, Begutachtungsverfahren und Stellungnahmen, https://www.parlament.gv.at/PAKT/MESN/ (abgefragt am 30.12.2018).
7. Vgl § 93 Abs 2 Arbeiterkammergesetz.
8. Vgl § 10 Abs 1 Wirtschaftskammergesetz.
9. Verfassungsdienst, Rundschreiben des Verfassungsdienstes betreffend Festsetzung angemessener Begutachtungsfristen, GZ BKA-600.614/0002-V/2/2008.
10. Vgl § 9 Abs 3 WFA-Grundsatzverordnung.
11, 13. Ennser-Jedenastik, Zu kurze Begutachtungsfristen bei Türkis-Blau – wie schon bei Rot-Schwarz, Der Standard 7.11.2018, https://derstandard.at/2000090732541/Tuerkis-Blau-setzt-zu-kurze-Begutachtungsfristen-wie-schon-Rot-Schwarz?_blogGroup=1 (abgefragt am 30.12.2018).
12. Red., Harsche Kritik an Mini-Begutachtungsfrist für ÖBIB-Reform, Der Standard 4.11.2018, https://derstandard.at/2000090622116/Harsche-Kritik-an-Mini-Begutachtungsfrist-fuer-OeBIB-Reform (abgefragt am 30.12.2018).
14. Geschäftsordnungsgesetz 1975 BGBl 1975/410 idF BGBl I 2016/41.
15. Vgl § 26 Abs 4 GOG-NR.
16. Berka, Verfassungsrecht7 (2018) 197.
17. 67/BNR BlgNR 26. GP.
18. Tálos, Auswirkungen der EU-Mitgliedschaft auf die Sozialpartnerschaft, in: Pfefferle/Schmidt/Valchars (Hrsg), Europa als Prozess. 15 Jahre Europäische Union und Österreich (2010) 68.
19. Vgl § 41 Abs 8 GOG-NR (Abänderungsanträge in Ausschusssitzungen), § 53 Abs 3 GOG-NR (Abänderungsanträge in Sitzungen des Nationalrates).
20. 102/BNR BlgNR 26. GP 2.
21. 3/BNR BlgNR 26. GP.
22. Parlamentskorrespondenz, Verfassungsausschuss gibt grünes Licht für neue Ressortverteilung in der Regierung, https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2017/PK1199/index.shtml (abgefragt am 30.12.2018).
23. 74/BNR BlgNR 26. GP 7.
24. Horaczek/Redl, Tiefe Hütte, Hohes Haus, Falter 2018/28, 12.
25. WZ-Online/APA, Sobotka tadelt Kurz – wegen mangelhafter Anfragebeantwortung, Wiener Zeitung 24.4.2018, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/960806_Sobotka-tadelt-Kurz-wegen-mangelhafter-Anfragebeantwortung.html (abgefragt am 30.12.2018).
26. Rathkolb, Autoritäres Potenzial und demokratische Werte in Österreich 1978 – 2004 – 2017, juridikum 2018/1, 80 (80).

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