Die Schule hat uns ausgespuckt. Matura in der Hand, aber keines der 12 Schulfächer hat uns genügend imponiert, uns für eine diesbezügliche Weiterbildung zu interessieren. Mehr als diese 12 Pforten waren halt auch nicht drin, und so standen viele von uns – uninspiriert und bildungsmäßig normiert – vor der Entscheidung zwischen den drei großen universitären Unbekannten: Jus, Medizin und Wirtschaft. Mit vagen Vorstellungen und Mut in der Tasche haben wir die heiligen Hallen des Juridicums betreten – und schnell begriffen: Auch hier gibt es einen Fahrplan; die eine Art erfolgreich in dieser Bildungsanstalt zu überleben. Die Autobahn zum Glück (oder zumindest zum schnellen Titel) verspricht das galeerenartige Pauken von Büchern, die der technischen Gebrauchsanweisung eines komplizierten Küchengeräts ähneln, anstatt der Substanz, aus der unser Staat und unser gesellschaftliches Zusammenleben gemacht ist.
weiterlesenVerfassungslos
Break it! Europas verschwiegene Verfassung
Was ist der Status einer Handlung, die eine gegebene Regel außer Kraft setzt – und zwar in der Weise außer Kraft setzt, dass jene Regel zwar weiterhin gilt, aber nicht mehr angewendet wird, ja, nicht mehr angewendet werden darf?
Anlässlich des Brexits widmet sich dieser Artikel der historischen Bedeutung des Projekts der Europäischen Einigung. In drei Schritten werden Argumente gegen die oft propagierte „Wiedererlangung nationaler Souveränität“ ins Treffen geführt: Zunächst wird die realhistorische und rechtliche Krisensituation beleuchtet, welche der Gründung der EU vorangeht. Im Mittelpunkt sollen hier die Analyse und die Kritik des Souveränitätsbegriffs stehen, wie sie sich ausgehend von den souveränitätskritischen Werken des italienischen Philosophen Giorgio Agamben formulieren lässt. In einem zweiten Schritt wird beschrieben, auf welche Weise der Europäische Gerichtshof (EuGH) auf diese Krisensituation antwortet, um die bereits gegründete EU aus den für jene Krise verantwortlichen Strukturen zu lösen. Schließlich wird der Blick auf die konkrete Handlung gelenkt, die der EuGH zu diesem Zweck vollzieht.
Der Generation von morgen eine Stimme
Verankerung und Praxis politischer Partizipationsformen von Kindern und Jugendlichen in Österreich
Am 20. November 2019 feierte die UN-Kinderrechtskonvention (KRK) von 1989 ihr 30-jähriges Jubiläum. Bereits 196 Staaten, darunter auch Österreich, sind der Konvention beigetreten, was sie zu einem der meist unterzeichneten völkerrechtlichen Verträge der Welt macht.1United Nations Treaty Collections, Status of Treaties – Convention on the Rights of the Child, 20. Nov. 1989, https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-11&chapter=4&clang=_en (Stand: 08.02.2020).
Klar ist, dass auch Kinder Träger*innen von Menschenrechten sind, jedoch sind die in der KRK geregelten Kinderrechte noch spezifischer. Denn sie sollen der besonderen gesellschaftlichen Position von Kindern gerecht werden, die als Personen grundsätzlich vom demokratischen Prozess ausgeschlossen sind.
weiterlesenQuellen
1. | ↑ | United Nations Treaty Collections, Status of Treaties – Convention on the Rights of the Child, 20. Nov. 1989, https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-11&chapter=4&clang=_en (Stand: 08.02.2020). |
Mehr als Wählen
Der Frankfurter Demokratiekonvent zeigt, wie partizipative Demokratie funktionieren könnte
In einer repräsentativen Demokratie beschränkt sich die Teilhabe der Bürger*innen an der Politik überwiegend auf den Wahlakt. Für das Funktionieren einer Demokratie wäre nach diesem Verständnis eine darüber hinausgehende Beteiligung auch nicht erforderlich. Befürworter*innen einer partizipativen Demokratie vertreten allerdings die Ansicht, dass die Menschen durch Selbstorganisation auch eigenständig tätig werden sollen, um auf den politischen Entscheidungsprozess Einfluss zu nehmen. Bürger*innen sollen die Demokratie demnach nicht nur als Staatsform, sondern auch als Lebensform begreifen und sich aktiv und selbstbestimmt in Gestaltungsprozesse einbringen können. Wie das funktionieren kann, zeigt ein aktuelles Experiment aus Frankfurt am Main.
weiterlesenBuchrezension: “Mut zum Recht”
“Ist es gerecht und effizient, Leergutdiebe zu verfolgen, die Untersuchung der Finanzkriminalität aber zu vernachlässigen?”
Oliver Scheiber plädiert in seinem Buch “Mut zum Recht” für eine moderne Justiz
Was sind die Aufgaben des Strafrechts? Wenn es nach dem Wiener Strafrichter Oliver Scheiber geht, dann sind es die Resozialisierung des Täter*innen, die Schadensgutmachung und der angemessene Umgang mit dem Opfer. Die Praxis sieht jedoch anders aus.
Nach 25 Jahren in der Justiz erzählt Oliver Scheiber von seinen Erfahrungen als Jus-Student, als angehender Richter, als Ausbildner, als Mitarbeiter im Ministerium, vor allem aber als Humanist. In zehn klar gegliederten Kapiteln liefert der Gerichtsvorsteher Vorschläge für eine Verbesserung der Justiz und beschreibt Beiträge wegweisender Vorreiter*innen.
Brauchen wir die Ehe noch?
Interview mit Rechtsanwältin Helene Klaar – „Du hast nichts von einer formalen Gleichberechtigung, wenn es keine materielle gibt.”
Seit über 40 Jahren arbeitet Helene Klaar als Scheidungsanwältin in Wien. Die Sozialdemokratin und Feministin wurde vor allem durch ihren „Scheidungsratgeber für Frauen“ bekannt, der 1982 von der damaligen Frauenministerin Johanna Dohnal in Auftrag gegeben wurde und 2015 zum letzten Mal erschien. Klaar, die 2019 für ihr Engagement um die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von Frauen den Käthe-Leichter-Lebenswerkpreis erhielt, hielt von 2003 bis 2017 am Juridicum die Lehrveranstaltung „Gender-Probleme in der familien- und scheidungsrechtlichen Praxis“. Mit Verfassungslos sprach sie über Geschlechterrollen vor Gericht, die familienrechtlichen Pläne der Regierung und ihre eigenen Vorstellungen von Geschlechtergerechtigkeit.
weiterlesenHaltung (nicht) bewahren
„Österreicher[*innen] stehen dem Islam sehr kritisch gegenüber“ (Kleine Zeitung) oder „Mehrheit der Österreicher[*innen] sieht Islam kritisch“ (der Standard). 1Neue Studie. Österreicher stehen Islam sehr kritisch gegenüber, https://www.kleinezeitung.at/oesterreich/5696194/Neue-Studie_Oesterreicher-stehen-Islam-sehr-kritisch-gegenueber (Stand 7.2.2020); Mehrheit der Österreicher sieht Islam kritisch, https://www.derstandard.at/story/2000109103695/mehrheit-der-oesterreicher-sehen-islam-kritisch, (Stand: 7.2.2020).
Mit diesen Titeln wurde über eine Studie der Universität Salzburg berichtet, deren Ergebnisse mehr zeigen, als eine „kritische Haltung“ gegenüber dem Islam. Fast die Hälfte der 1.200 Befragten stimmte beispielsweise der Aussage zu, dass „Muslim[*innen] nicht gleiche Rechte wie alle in Österreich“ haben sollten. Eine ähnliche Studie der Bertelsmann Stiftung in Deutschland von 2015 kommt zu ähnlichen Ergebnissen und statuiert, dass „Islamfeindlichkeit keine gesellschaftliche Randerscheinung ist, sondern sich in der Mitte der Gesellschaft findet.“ 2El-Menouar/Vopel, Religionsmonitor verstehen was verbindet. Sonderauswertung Islam 2015. Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick (2015), 3.
Quellen
1. | ↑ | Neue Studie. Österreicher stehen Islam sehr kritisch gegenüber, https://www.kleinezeitung.at/oesterreich/5696194/Neue-Studie_Oesterreicher-stehen-Islam-sehr-kritisch-gegenueber (Stand 7.2.2020); Mehrheit der Österreicher sieht Islam kritisch, https://www.derstandard.at/story/2000109103695/mehrheit-der-oesterreicher-sehen-islam-kritisch, (Stand: 7.2.2020). |
2. | ↑ | El-Menouar/Vopel, Religionsmonitor verstehen was verbindet. Sonderauswertung Islam 2015. Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick (2015), 3. |
Editorial Ausgabe #3 Verfassungslos
Endlich ist es soweit: Die dritte Ausgabe von Verfassungslos ist da! Im Februar 2018 herrschte in unseren Reihen noch Staunen, Entsetzen und gegenseitiges Versichern, dass für einige Vorhaben des damals neuen Regierungsprogramms zumindest eine Verfassungsmehrheit benötigt wird. 20 Monate später haben wir drei ganze Ausgaben produziert und über 1.000 Verfassungslos Hefte verteilt. 36 Studierende haben bisher an ihrem Gelingen mitgearbeitet, 23 davon sogar als Autor*innen.
Wessen Standpunkt, dessen Standort
Eine Fallstudie über politisches Framing und wie dieses Eingang in Gesetze findet.
Wir haben einen guten Wirtschaftsstandort, der aber im Vergleich mit unseren Nachbarn nicht mehr wettbewerbsfähig genug ist“1Neue Volkspartei/Freiheitliche Partei Österreichs, Zusammen. Für unser Österreich. Regierungsprogramm 2017–2022, https://www.dieneuevolkspartei.at/download/Regierungsprogramm.pdf, oD, 7 (Stand: 23.06.2019)., hieß es im Regierungsprogramm der schwarz-blauen Regierung unter Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache im Herbst 2017. Ganze 29-mal kommt der Begriff Wirtschaftsstandort darin vor, außerdem wurde ihm nicht zuletzt mit „Wirtschaftsstandort und Entbürokratisierung“2Neue Volkspartei/Freiheitliche Partei Österreichs, Regierungsprogramm 2017-2022, 132-141. ein eigenes Kapitel gewidmet. Derartige Positionierungen fanden offenbar auch bei Industriellen, wie dem Porr-Hauptaktionär Klaus Ortner, Anklang. Er hatte, wie im Juni 2019 publik wurde, der ÖVP unter Sebastian Kurz schon im Wahlkampf 2017 beträchtliche Summen an Geld gespendet und begründete seine damalige Motivationslage mit der Hoffnung, Kurz würde den Wirtschaftsstandort Österreich voranbringen.3APA, ÖVP: Eine Million von Porr-Großaktionär Ortner?, https://diepresse.com/home/innenpolitik/5647339/OeVP_Eine-Million-von-PorrGrossaktionaer-Ortner (Stand: am 23.06.2019). Und – zumindest formell – hat sich die ehemalige Regierung diesem Programm auch verschrieben: Die Nationalratsabgeordneten der beiden Parteien haben das sogenannte Standortentwicklungsgesetz (StEntG) beschlossen und sich sogar um die – letztendlich gescheiterte – Verankerung dieses Wortlauts in der Verfassung bemüht. Der wettbewerbsfähige Wirtschaftsstandort scheint für dieses Land und die Menschen, die darin leben, wichtig zu sein, wenn auch seine genaue Bedeutung nicht greifbar ist. Es wird das Bild von einem ominösen Wettbewerb gezeichnet, an dem auch Österreich, das scheinbar droht, hinter die Konkurrenz zurückzufallen, teilnimmt. Hinter diesem Bild verbirgt sich eine klare politische Linie, die aber durch geschickte Kommunikation als neutral und – im Sinne eines internationalen Wettbewerbs – unumgänglich erscheint. Wie das funktionieren kann, wollen wir mittels der Theorie des Framings erklären.
weiterlesenQuellen
1. | ↑ | Neue Volkspartei/Freiheitliche Partei Österreichs, Zusammen. Für unser Österreich. Regierungsprogramm 2017–2022, https://www.dieneuevolkspartei.at/download/Regierungsprogramm.pdf, oD, 7 (Stand: 23.06.2019). |
2. | ↑ | Neue Volkspartei/Freiheitliche Partei Österreichs, Regierungsprogramm 2017-2022, 132-141. |
3. | ↑ | APA, ÖVP: Eine Million von Porr-Großaktionär Ortner?, https://diepresse.com/home/innenpolitik/5647339/OeVP_Eine-Million-von-PorrGrossaktionaer-Ortner (Stand: am 23.06.2019). |
„Schlanke Verwaltung“ statt sozialer Versicherung
Das Sozialversicherungs-Organisationsgesetz
verfassungsrechtlich beleuchtet
In Österreich gilt für alle Erwerbstätigen das Modell der Pflichtversicherung. Der Satz scheint so einfach und doch steckt hinter diesen zehn Wörtern ein politisches Schlachtfeld, auf dem seit Anbeginn der Sozialversicherung (SV) schonungslos gekämpft wird. Der Grund dafür liegt einerseits darin, dass die finanziellen Interessen der Wirtschaft auf jene der Arbeitnehmer*innen prallen. Andererseits werden auf dieser Ebene politische Fragen beantwortet und konkrete Leistungen erbracht, die für einen Großteil der Bevölkerung existentielle Bedeutung haben.
Insbesondere in der Welt des Neoliberalismus scheint die staatliche SV als Maxime fehl am Platz. Die Idee eines solidarischen Pflichtversicherungssystems baut auf dem Grundgedanken der Freiheit, sich sein Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu gestalten, auf. Das soll auch dann möglich sein, wenn die eigene Erwerbsfähigkeit (kurzfristig) eingeschränkt ist (Kranken- und Unfallversicherung), diese aus eigener Kraft nicht mehr erbracht werden kann (Pensionsversicherung) oder der Arbeitsmarkt nicht genügend Nachfrage erzeugt (Arbeitslosenversicherung). Der Neoliberalismus postuliert konträr dazu maximale Eigenverantwortung und marktwirtschaftliche Lösungen (Privatversicherung); die Logik des Kapitalismus verpflichtet zu ständiger Ausweitung von Profitchancen.1Ferge, „Freiheit und soziale Sicherheit“ (= Transit, Bd. 12), Frankfurt a.M., 1996, 62-78. (67 ff).
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1. | ↑ | Ferge, „Freiheit und soziale Sicherheit“ (= Transit, Bd. 12), Frankfurt a.M., 1996, 62-78. (67 ff). |