“Ist es gerecht und effizient, Leergutdiebe zu verfolgen, die Untersuchung der Finanzkriminalität aber zu vernachlässigen?”
Oliver Scheiber plädiert in seinem Buch “Mut zum Recht” für eine moderne Justiz
Was sind die Aufgaben des Strafrechts? Wenn es nach dem Wiener Strafrichter Oliver Scheiber geht, dann sind es die Resozialisierung des Täter*innen, die Schadensgutmachung und der angemessene Umgang mit dem Opfer. Die Praxis sieht jedoch anders aus.
Nach 25 Jahren in der Justiz erzählt Oliver Scheiber von seinen Erfahrungen als Jus-Student, als angehender Richter, als Ausbildner, als Mitarbeiter im Ministerium, vor allem aber als Humanist. In zehn klar gegliederten Kapiteln liefert der Gerichtsvorsteher Vorschläge für eine Verbesserung der Justiz und beschreibt Beiträge wegweisender Vorreiter*innen.
Eines fällt beim Lesen rasch auf: Es sind vor allem jene Persönlichkeiten, die aus der Reihe tanzen, welche Veränderungen im Justizwesen hervorbrachten. Diejenigen, die sich weigerten das zu tun, was ihre Vorgänger*innen taten, nämlich eine Vorlage blind zu übernehmen und sie mit neuen Namen und den gleichen Strafen zu versehen. Jene, die das aktuelle System und seine Schwächen erkannten und die mutige Entscheidung trafen, es zu verbessern. Das sind zum Beispiel der systemkritische Rechtsanwalt und ehemalige Nationalratsabgeordnete Alfred J. Noll, der spanische Richter Baltasar Garzón, der zuletzt Julian Assange jahrelang als Rechtsberater beiseite stand, Udo Jesionek, der engagierte Präsident des ehem. Jugendgerichtshofs, die ehem. Justizministerin Maria Berger sowie Mira Kadric, die in Österreich den Universitätslehrgang “Dolmetschen für Gerichte und Behörden” initiierte.
Das Buch ist ein Aufruf an alle Jurist*innen, sich mit dem aktuellen System nicht zufrieden zu geben und zu kritischen Non-Konformist*innen zu werden. Dieser Aufruf zieht sich durch das gesamte Werk und motiviert zu politischem Denken in juristischen Kreisen. Etwas, das an den Universitäten noch viel zu wenig geübt wird. Auch die Kunst spielt eine wesentliche Rolle. Das belegt Oliver Scheiber, indem er auf das enorme Potenzial von Literatur und Theater für soziale Reformen eingeht. Das Buch von Anatole France “Crainquebille” sowie das grandiose Theaterstück von Nikolaus Habjan über das Leben des Friedrich Zawrel “F. Zawrel – Erbbiologisch und sozial minderwertig“ sind Beispiele dafür, wie die Kunst der Justiz mächtige Denkanstöße geben kann.
Der in der vorigen Ausgabe von Verfassungslos interviewte Richter Oliver Scheiber appelliert an alle angehenden Jurist*innen, hinter den Vorhang des Gesetzes zu blicken und zwischen den Zeilen der gelben Kodizes zu lesen. Gesetze sind nicht neutral. Sie sind von Menschen gemacht und dienen bestimmten Interessen. Wirtschaftswachstum hat in unseren Gesetzen immer noch stets Vorrang gegenüber Natur und Umweltschutz (#DrittePiste), in der Verfolgung der Kleinkriminalität sind Staatsanwält*innen spitzenklasse, in Korruption und Wirtschaftskriminalität fehlen Ressourcen und Kompetenz. Es gibt viel zu tun. Und jetzt haben wir eine Anleitung dafür. Danke, Oliver!
Ricardo Parger