Was ist der Status einer Handlung, die eine gegebene Regel außer Kraft setzt – und zwar in der Weise außer Kraft setzt, dass jene Regel zwar weiterhin gilt, aber nicht mehr angewendet wird, ja, nicht mehr angewendet werden darf?
Anlässlich des Brexits widmet sich dieser Artikel der historischen Bedeutung des Projekts der Europäischen Einigung. In drei Schritten werden Argumente gegen die oft propagierte „Wiedererlangung nationaler Souveränität“ ins Treffen geführt: Zunächst wird die realhistorische und rechtliche Krisensituation beleuchtet, welche der Gründung der EU vorangeht. Im Mittelpunkt sollen hier die Analyse und die Kritik des Souveränitätsbegriffs stehen, wie sie sich ausgehend von den souveränitätskritischen Werken des italienischen Philosophen Giorgio Agamben formulieren lässt. In einem zweiten Schritt wird beschrieben, auf welche Weise der Europäische Gerichtshof (EuGH) auf diese Krisensituation antwortet, um die bereits gegründete EU aus den für jene Krise verantwortlichen Strukturen zu lösen. Schließlich wird der Blick auf die konkrete Handlung gelenkt, die der EuGH zu diesem Zweck vollzieht.
I. Das Paradigma der Souveränität
Das klassische Völkerrecht war bis ins frühe 20. Jahrhundert vom Paradigma der Souveränität bestimmt: Die einzigen anerkannten Völkerrechtssubjekte waren die souveränen Staaten. Die Souveränität eines Staates lässt sich an zwei Dimensionen festmachen, einer inneren und einer äußeren. Die innere Dimension betrifft den Aspekt der Selbstgesetzgebung, die äußere vor allem die politische Unabhängigkeit. Beide Aspekte gehören selbstverständlich zusammen und stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zueinander: Durch unabhängige Selbstgesetzgebung wird eine politische Einheit begründet. Für die souveränen Staaten konnte sich beginnend im 19. Jahrhundert das Prinzip des Nationalstaats durchsetzen. Die Zugehörigkeit zu diesen wurde und wird vor allem auf Grundlage der Prinzipien des ius sanguinis und des ius soli entschieden, also nach dem “Recht des Blutes” und dem “Recht des Bodens”.1 Vgl. Arnauld, Andreas von: Völkerrecht. Heidelberg: C.F. Müller Verlag 3 2016, Rz 83. Die Rechtsordnung eines Staates stellt ihre schützende Macht demnach vor allem denjenigen zur Verfügung, welche aufgrund ihrer Abstammung oder ihres Geburtsortes Staatsbürger*innen sind. Recht ist in diesem Sinne also nationales Recht, und zwar national begrenztes Recht. Die begrenzende und begrenzte Wirkung des Rechts und die Konstitution einer politischen Einheit hängen also im Rahmen des souveränen, nationalstaatlichen Paradigmas zusammen.
Die grundlegende Funktion eines nationalen Gesetzes besteht somit darin, eine Einteilung zu vollziehen:2 Vgl. Agamben, Giorgio: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Aus dem Italienischen von Davide Giuriato. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 59. Das Gesetz unterscheidet ein Innen von einem Außen. Wer in den Schutzbereich des die politische Einheit begründenden Gesetzes fällt, wird durch das Gesetz als Rechtsperson konstituiert und untersteht dem Schutz der Gesetze. Nationale Gesetze erheben auf diese Weise eine nationale Identität zu einem normativen Rahmen, innerhalb dessen Gemeinschaft stattfinden soll. Was außerhalb steht, untersteht ihrem Schutz nicht. Das unterschiedene Außen steht aber – worauf der italienische Philosoph Giorgio Agamben hinweist – weiterhin in einer Beziehung zu dem Gesetz und der durch das Gesetz konstituierten politischen Einheit.3 Vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die Souveränität und das nackte Leben. Aus dem Italienischen Hubert Thüring. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 39. Und zwar insofern, als es in keiner Beziehung zu dem Gesetz steht und die Beziehung sich darin erschöpft, vom Schutz der Gesetze ausgeschlossen zu sein. Es ist eine Beziehung, die eine Nicht-Beziehung ist, ein Einschluss, der die Gestalt eines Ausschlusses hat: Das Gesetz bezieht sich auf den Ausgeschlossenen, insofern es ihn ausschließt. Die Entscheidungsmacht über den Ein- oder Ausschluss aus dem Schutz der Rechtsordnung ist als solche unbeschränkt, absolut und eben: souverän.
Diese Vorstellung einer absoluten Souveränität trägt, wie Agamben in seiner Analyse des Souveränitätsbegriffes aufzeigt, die Wurzel ihrer Krise allerdings bereits in sich. Denn im Paradigma des national begrenzten Rechts ist das Leben, auf das sich die souveräne Entscheidung bezieht, immer eines, das potentiell vom Schutz der Rechtsordnung ausgeschlossen ist.4 Vgl. Agamben 2002, S. 37. Sogar dessen Anerkennung als Rechtsperson – und solcherart als qualifiziertes Leben – steht permanent zur Disposition. Es ist daher zunächst ein hinsichtlich des Personenstatus unbestimmtes, bloßes Leben. Dass das Leben unter dem Schutz der Rechtsordnung steht, ist ja erst die Folge der souveränen Entscheidung. Was sich als Schutzversprechen geriert, setzt sich ein schutzloses Leben gegenüber. Dies lässt sich anhand beider Dimensionen der Souveränität beobachten. Wird die innere Dimension der Souveränität konsequent zu Ende gedacht, so ist ihr Ergebnis der Staat als black box: Was im Inneren eines Staates passiert kann nie eine Angelegenheit der internationalen Gemeinschaft sein. Nach außen hin sichert der Staat seine Unabhängigkeit. Wird die äußere Dimension konsequent zu Ende gedacht, liegt ihre Manifestation im Recht zum Krieg. Beide Dimensionen der Souveränität stellen eine Sphäre her, auf welche sie unbeschränkt zugreifen können.
Im 20. Jahrhundert tritt die Tendenz zur Krise mit voller Wucht in die historische Wirklichkeit. Diese Tendenz zur Krise ist der Funktion des national begrenzten Gesetzes, welches trennt und Identität durch Ausschluss produziert, strukturell immanent. Das System der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland führte beide Dimensionen der Souveränität zu ihrer letzten Konsequenz. Die politisch, religiös oder ethnisch motivierte Verfolgung im Innern, der totale Angriffskrieg im Äußeren sind der Ausdruck der Krise des Paradigmas der Souveränität. Wie sich im nationalsozialistischen Deutschland gezeigt hat, steht jede*r zu jeder Zeit potentiell außerhalb des rechtlichen Schutzes und befindet sich damit – wie mit Giorgio Agamben gesagt werden kann – in einem Zustand der potentiellen Tötbarkeit. Die Gleichheit der Menschen besteht – schon nach Thomas Hobbes – in der gleichen Tötbarkeit.5 Hobbes, Thomas: Vom Menschen/Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III. Eingeleitet von Günter Gawlick. Hamburg: Meiner 1994, S. 79. Der der Blut-und-Boden-Doktrin verpflichtete Nationalsozialismus ist der zu Ende gedachte Nationalstaat.
II. Die supranationale Wende
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges werden auf politischer und rechtlicher Ebene Auswege aus dieser Krise gesucht. Den ersten historisch bedeutsamen Schritt in Richtung der Überwindung des Paradigmas der absoluten Souveränität stellte die Etablierung des völkerrechtlichen Gewaltverbots und der Menschenrechte im Rahmen der Vereinten Nationen dar. Das zentrale Problem aber bestand nun darin, wie die Errungenschaften auf Ebene des Völkerrechts zu von den Individuen selbst durchsetzbaren subjektiven Rechten werden konnten – wie also die black box aufgebrochen werden kann. Innerhalb des Paradigmas der Souveränität ist das Individuum im Grunde auf völkerrechtlicher Ebene nicht existent. Es bedarf des Staates als vermittelnde Instanz, um völkerrechtlich begründete Rechte von Individuen diesen Individuen auch wirklich zu verleihen. Dabei wird im Wege der innerstaatlichen Gesetzgebung die rein völkerrechtliche Verpflichtung eines Staates, solche Rechte einzuräumen, in ein subjektives Recht der Einzelnen transformiert. Gerade darin bestand und besteht auch noch heute das Problem: Der Nationalstaat ist nicht Schwelle der Transformation, sondern Raster der Deformation von Rechten.
Der Übergang von einer absolut gedachten Souveränität hin zu einem relativen, eingeschränkten Souveränitätsverständnis hat seinen – wenn auch sicherlich nicht alleinigen, so aber doch – stärksten Niederschlag in der Entwicklung der EU gefunden. Das Fundament dazu bildete freilich noch immer das klassische Völkerrecht. So bilden völkerrechtliche Verträge die Grundlage der EU. Diese beinhalten allerdings die Konzeption supranationaler Rechtsakte, welche unmittelbar in den Mitgliedstaaten gelten und unmittelbar von den jeweiligen Vollzugsbehörden anzuwenden sind. Auf diese Weise durchbricht das Unionsrecht die Ebene des Nationalstaates und die Mediatisierung entfällt. Diese supranationalen Rechtsakte finden ihre Grundlage in den Verträgen selbst.
Damit aber standen sich zu Beginn des Projekts der Europäischen Einigung zwei Modelle gegenüber, deren Verhältnis zueinander es zu klären galt: das alte, dem Paradigma der Souveränität verhaftete Modell und das neue, die Souveränität durchbrechende Modell des supranationalen Rechts. Eine souveräne Hintertür stand durch dieses Nebeneinander der Systeme demnach weiterhin offen (dazu sogleich).
III. Geltung ohne Anwendung
Welche Gründe auch immer dazu beigetragen haben mögen, dass das Verhältnis der beiden rechtlichen Ebenen in den Verträgen in einem entscheidenden Punkt ungeklärt gelassen worden war – in der Rechtssache Costa/ENEL6 EuGH 15.07.1964, 6/64, Costa/ENEL vollzog der EuGH im Rahmen seiner Rechtsprechung eine Handlung, welche dieses Verhältnis klärte, indem für den Kollisionsfall eine Regel etabliert wurde: Im Kollisionsfall geht die unmittelbar geltende und unmittelbar anwendbare unionsrechtliche Regel der widersprechenden nationalstaatlichen Regel vor. Damit wurde die Grundstruktur des politischen und rechtlichen Raumes „Europa“ bestimmt. Eine vertragliche Kompetenz des EuGH hiezu zu suchen, wäre wohl vergeblich – was angesichts der Bedeutung dieses Strukturprinzips bemerkenswert ist. Die genaue Formulierung des EuGH ist vor dem Hintergrund des dargestellten historischen Kontextes eine nähere Betrachtung wert. So formuliert er mit Blick auf das unionsrechtliche Gebot zur loyalen Zusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten in Bezug auf unmittelbar anwendbares Unionsrecht (Zitat aus dem Urteil zu Costa/ENEL):
„Diese Bestimmung [sc. Art 189 EWG-V], die durch nichts eingeschränkt wird, wäre ohne Bedeutung, wenn die Mitgliedstaaten sie durch Gesetzgebungsakte, die den gemeinschaftsrechtlichen Normen vorgingen, einseitig ihrer Wirksamkeit berauben könnten.
Dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht, [können] wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.“7 EuGH 15.07.1964, 6/64, Costa/ENEL.
Die Formulierung des EuGH weist auf eine fundamentale Bedingung der Möglichkeit von Gemeinschaftsrecht überhaupt hin: Das Unionsrecht und unmittelbar geltende Rechtsakte sind sinnvollerweise nur um den Preis zu haben, dass sie allen nationalen Rechtsvorschriften, die denselben Gegenstandsbereich haben, vorgehen. Das, was in den Verträgen vereinbart worden ist, ist nur dann sinnvoll, wenn davon nicht durch einseitig gesetzte, nationale Rechtsakte abgewichen werden kann. In seiner Eigenschaft als quasi-verfassungsmäßiges Strukturprinzip wird vermittels des Anwendungsvorrangs zweierlei vollzogen, was eine Antwort auf die Krise des Paradigmas der Souveränität darstellt: Das Unionsrecht wird gesetzt, indem das nationale Recht ent-setzt wird. Und derjenige Zustand, vor dem der EuGH das Unionsrecht zu bewahren trachtet, ist eben der Zustand, in welchen das nationale Recht versetzt wird: der Zustand einer Geltung ohne Anwendung. Ohne Anwendungsvorrang würde das Unionsrecht zwar auf eine Weise gelten (im Falle der Verträge wie herkömmliche völkerrechtliche Verträge), wäre jedoch ohne zwingende innerstaatliche Anwendung. Jeder Mitgliedstaat könnte nach seinem Belieben von den unionsrechtlichen Vorgaben abweichen, indem diesen widersprechende Gesetze erlassen werden. Der Anwendungsvorrang sichert, dass unionsrechtliche Verpflichtungen ihren Charakter als unbedingte Verpflichtungen bewahren. Steht ferner ohne den Anwendungsvorrang das Ganze des Unionsrechts in Frage, so wird durch den Anwendungsvorrang – das könnte zumindest aus den Worten des EuGH e contrario geschlossen werden – das Ganze der die einzelnen nationalen Identitäten konstituierenden Gesetze in Frage gestellt. Diese Infragestellung ist kein Akt der Rechtsvollziehung oder Rechtsauslegung. Es ist eine politische Handlung.
IV. Schluss: Ein leeres Versprechen
Die Qualifizierung des Zustandes eines Gesetzes, in welchem es zwar gilt, aber nicht angewendet wird, ist Gegenstand vieler Debatten. Insofern der Sinn eines Gesetzes gerade in seiner Anwendung besteht, gleicht ein geltendes, aber nicht anzuwendendes Gesetz einem leeren Versprechen. Mit Blick auf die Struktur national begrenzten Rechts hat die Handlung des EuGH in der Costa/ENEL-Rechtsprechung dies nicht verursacht, sondern nur entlarvt. Die erstaunliche Autorität der richterrechtlichen Lehre vom Anwendungsvorrang verdankt sich nicht einer eigenmächtig und faktisch erlangten normativen Kraft, sondern vielmehr der normativen Kraft, welche ihre Quelle in dem historisch zwingenden Eingeständnis des Scheiterns einer Politik hat, welche der Logik der Souveränität folgt. Sie stellt eine Antwort auf die realhistorische Krise des national begrenzten Gesetzes dar und zeigt, dass dies ein leeres Versprechen ist, weil es das, was es verspricht – nämlich die politische Einheit, die sich durch die Anknüpfung an Kriterien wie Blut oder Boden konstituiert –, nicht gibt, nicht geben kann und wird. Der Akt des EuGH richtete sich gegen die Souveränität, war aber selbst kein souveräner Akt. Der EuGH ist kein souveränes, völkerrechtliches Subjekt. Dieser Mangel an Souveränität ist aber weniger eine Schwäche des Gerichtshofes (wie auch der EU insgesamt), als vielmehr die besondere Quelle seiner Legitimation. Die Etablierung des Anwendungsvorrangs wird im Interesse der Gemeinschaft geleistet, nicht im Interesse einer bestimmten Nation. Innerhalb des Paradigmas der Souveränität lässt sich das supranationale Strukturprinzip des Anwendungsvorrangs nur als Schwäche, als Mangel oder Defizienz fassen – ja, es lässt sich offenbar nicht einmal ausdrücken. Das Institut des Anwendungsvorrangs hat bis heute noch keinen Eingang in die EU-Verträge gefunden. Europa als historisch wichtigstes Anti-Diskriminierungsprojekt hat eine verschwiegene Verfassung, deren Imperativ lautet: „Break the Law!“
Jakob Rendl
Quellen
1. | ↑ | Vgl. Arnauld, Andreas von: Völkerrecht. Heidelberg: C.F. Müller Verlag 3 2016, Rz 83. |
2. | ↑ | Vgl. Agamben, Giorgio: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Aus dem Italienischen von Davide Giuriato. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 59. |
3. | ↑ | Vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die Souveränität und das nackte Leben. Aus dem Italienischen Hubert Thüring. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 39. |
4. | ↑ | Vgl. Agamben 2002, S. 37. |
5. | ↑ | Hobbes, Thomas: Vom Menschen/Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III. Eingeleitet von Günter Gawlick. Hamburg: Meiner 1994, S. 79. |
6. | ↑ | EuGH 15.07.1964, 6/64, Costa/ENEL |
7. | ↑ | EuGH 15.07.1964, 6/64, Costa/ENEL. |